Urteil gegen "Schlepper" im Fall Dover
22.05.2001
no-racism.net | deportatiNO

       

aus "Junge Welt" vom 16.5.01

Hintergundinfo: 58 Tote in Dover
 


Knapp ein Jahr nachdem ein Container voller erstickter Flüchtlingim
britischen Dover entdeckt wurde, sind jetzt die Schlepper ohne große Öffentlichkeit wegen fahrlässiger Tötung von einem holländischen Gericht verurteilt worden. Statt als organisierte Flüchtlingsmafia erwiesen sich die sieben Angeklagten als kleine Bande, der ihnen ursprünglich zur Last gelegte Mord stellte sich als ein von einem defekten Kühlsystem verursachter Unfall heraus.

Damit habe, kommentierte die Nachrichtenagentur AFP, das Gericht
»einen vorläufigen Schlussstrich unter den Tod von 58 chinesischen
Flüchtlingen (...) gezogen«. Die Richter scheuten sich, den
niederländischen Grenzbehörden - wie von den Verteidigern gefordert - eine Mitschuld anzulasten.

Dabei lassen jährlich mehrere hundert Flüchtlinge ihr Leben bei
ähnlichen »Unfällen« im direkten europäischen Einzugsbereich. Nimmt man die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, Nordafrika und den vorderen Orient hinzu, so steigt die Zahl in die Tausende. Den
»Schlussstrich« unter deren Leben zieht eine Fluchtabwehr, die den
unglücklichen Ausnahmefall durch die Hochrüstung der Grenzanlagen zur Regel erhebt.

Nun fand einmal im Zentrum statt, was sich eigentlich an der
Peripherie ereignen sollte. Nichts anderes meinen die
EU-Regierungschefs, wenn sie erklären, das Ziel ihrer Politik sei es,
»in den Herkunftsländern Lebensbedingungen (zu) schaffen, die es
(Flüchtlingen) ermöglichen soll, in der Heimat zu bleiben«, wie es
der EU-Kommissar für Justiz, Antonio Vitori, formulierte.

Das Zeugnis eines türkischen Reservisten auf einer
Flüchtlingskonferenz im März in Ankara verleiht der abstrakten
EU-Fluchtabwehr konkrete Gestalt. Mehr als 100 in der Türkei
gestrandete Flüchtlinge pro Woche habe allein seine Einheit illegal
an die iranische Grenze verfrachtet. Bevor sie über die Grenze gejagt wurden, nahm man ihnen alle Wertgegenstände ab und prügelte sie mit Gewehrkolben. Wenn auf der iranischen Seite keine Patrouille mehr zu sehen war, wurden sie mit Schüssen in die Luft über die Grenze getrieben.

Was in keinem EU-Papier zu finden ist, stellt die tägliche Praxis
einer Abschottungspolitik dar, die den Ausnahmefall regelhaft nutzt,
indem sie die Verantwortung der Exekutive überträgt. In
Flüchtlingsangelegenheiten agiert so »die Polizei nicht mehr als
Instrument zur Vollstreckung des Gesetzes« (Hannah Arendt), sondern eigenmächtig im Sinne flüchtlingspolitischer Vorgaben.

Mit den illegalen Repressionen an der ausgelagerten Grenze
korrespondiert die zunehmende Entrechtung von Flüchtlingen innerhalb Europas. In den Händen der Exekutive wird hier der Flüchtling zum vollständig verwalteten Objekt. Jeder Schritt wird von Ausländer- und Sozialbehörden reglementiert, von der Vorenthaltung der Bewegungsfreiheit, über Nahrungsmittelzuteilungen bis zur Krankenversorgung.

»Unmoralische Profiteure menschlicher Verzweiflung«, wie das Gericht die »Schlepper von Dover« aburteilte, ersparen jährlich Zehntausenden das Schicksal jener, die es auf eigene Faust versuchen und bereits in der europäischen Peripherie scheitern. Im Geschäft mit ihm als Ware manifestiert sich nur der sächliche Charakter des Flüchtlings, der, zum Objekt degradiert, hilflos der unmittelbaren Gewalt aller Akteure ausgeliefert ist.

12,1 Millionen Menschen sind nach Schätzungen des Flüchtlingswerks UNHCR derzeit in der ganzen Welt auf der Flucht.

   
 

www.no-racism.net