Tarifa Tagebuch
10.07.2001
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MON 2 JUL MALAGA
TUE 3 JUL TARIFA
WED 4 JUL TARIFA
THU 5 JUL TARIFA
FRI 6 JUL TARIFA
SAT 7 JUL TARIFA
SUN 8 JUL TARIF

 

 

MON 2 JUL 2001 MALAGA

Es sind winzig kleine Veränderungen, die drei Tage, nachdem ich hier ankam, kaum noch zu bemerken sind. Am Freitag hatte der Flughafen in Barcelona ausgesehen wie nach einem Bombenanschlag. Als hätte es das Isoliermaterial aus den Decken gefetzt, ist der sonst so glänzend polierte Boden mit Konfetti überstreut. Auf den Spiegelflächen prangen giftgrüne Aufkleber, von der Sorte, die besonders schwer wieder abzulösen ist. Streikende Putzleute haben sich nicht darauf beschränkt, einfach ihrer Arbeit nicht mehr nachzugehen, sondern sind durch das Flughafengebäude gezogen, haben eine Spur harmloser Verwüstung gezogen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Zwei Stunden später war ich endlich in der Stadtmitte, finde mühsam den Weg zum Museum und in die Lagerhalle, in der wir im vergangenen Oktober schon zehn Tage verbracht haben. Der erste Mensch, dem ich vorgestellt werde, ist eine Mexikanerin, die zur Zeit in Denver lebt. Sie erzählt, dass sie den grossen Streik der Janitors, der us-mexikanischen Putzleute im April 2000 mitorganisiert hat. Es hatte in Los Angeles begonnen, wo die traditionell gewerkschaftlich gut organisierten Janitors im Laufe der
80er Jahre durch illegale Einwanderer ersetzt wurden, die für einen Bruchteil des Stundenlohns arbeiteten. Anstatt in Xenofobie zu verfallen wie der Gewerkschaftsbund AFL/CIO, haben Aktivisten der örtlichen Dienstleistungsgewerkschaft LOCAL SEIU 1877 über mehr als ein halbes Jahrzehnt Organisationsarbeit an der Basis geleistet. Valery wird am Mittwoch im Camp von diesem Streik berichten, der sich in nur wenigen Wochen über die gesamten USA ausgebreitet hat. Vorher wird "Bread and Roses", der neue Film von Ken Loach gezeigt.

Das Wochenende in Barcelona war anstrengend, aber erfolgreich. Es sieht ganz so aus,. als könnten wir am kommenden Samstag eine Videokonferenz zwischen allen vier dann stattfindenden Camps organisieren. Drei Medienbusse sind unterwegs zu den Grenzcamps, ausgerüstet mit Computern, Videokameras, Schnitt- und Projektionsmöglichkeiten. Die Live Streams werden im _lab in Berlin zusammenlaufen, wo ein paar Freunde ohnehin grosse Bandbreiten für die Übertragung der Love Parade ein paar Tage später angemietet haben. Nachdem wir uns ein letztes Mal in Barcelona abgesprochen haben, sind wir seit gestern abend in alle Himmelsrichtungen verstreut, auf dem Weg zu den drei Camps an den Aussengrenzen Europas. Ich schleppe in meiner Tasche Router, Hub und Ethernet-Kabel, um beim Camp in Tarifa ein lokales Netz aufzubauen, aus dem heraus wir streamen können. In Campsfield bei Oxford wird eine Protestaktion gegen das örtliche Abschiebelager gefilmt, geschnitten und nach Berlin geladen. Die Wiener fahren von Salzburg, wo sie am Sonntag noch gegen ein Treffen des WEF demonstriert haben, mit ihrer "Publix Theatre Caravan" weiter zum Camp nach Slowenien. Drei andere haben den
weitesten Weg vor sich: An die polnisch-weissrussische Grenze, wo das nunmehr zweite Grenzcamp in Polen stattfindet. Die Organisatoren werden seit Wochen von der Polizei eingeschüchtert und bedroht. Letzte Woche wurde eine örtliche Aktivistin von amnesty international für kurze Zeit von Geheimdienstmitarbeitern entführt. Trotzdem wird das Camp natürlich stattfinden, auch wenn der angemietete Platz wieder gekündigt wurde, und wie im letzten Jahr auch besetzt werden muss.

Gestern wurden wir wieder in der Lagerhalle eingesperrt, die die
spanischen Freunde von "las agencias" vom Museum überlassen bekommen haben und als ihr Hauptquartier nutzen. Wie schon in der Nacht zuvor, hat der Sicherheitsdienst, der sonst teure Kunstwerke bewacht, einfach den Schlüssel umgedreht. Erst nach langen Diskussionen mit dem Wachhabenden ist es gelungen, die Türe noch einmal für wenigstens fünf Minuten zu öffnen. In kürzerster Zeit alles Material, was mit nach Tarifa zum Camp muss zusammenpacken, einige letzte emails rausschicken, Papiere und Poster in die Tasche stopfen. Dann sitze ich mit den Österreichern und einem Ukrainer auf dem Platz vor meiner arabischen Pension, um Wodka zu trinken. Die Parkbänke sind wie Flugzeugstühle konstruiert, so dass bloss niemand drauf schlafen oder einfach länger als zehn Minuten sitzen kann. Der Platz selbst ist gespentisch. Vor ein paar Monaten müssen sich hier noch Häuserblocks befunden haben, bis Stadtplaner auf die Idee kamen, wieder eine Bresche in das unübersichtliche überwiegend von Migranten bewohnte Viertel hinter der Touristenmeile Las Ramblas zu schlagen. Die Anwohner nehmen es auf den ersten Blick gelassen und machen sich nachts um drei Uhr auf den Rasenflächen breit.

Nach zwei Stunden Fahrt im heißen Mietwagen über die Autobahn von Malaga nach Algeciras sehen wir endlich Afrika. Die Sonne steht günstig, die marokanische Küste wirkt so nah, dass ich lange Zeit denke, wir würden immer noch an Gibraltar vorbeifahren. Europa winkt mit riesigen Windrädern, die auf den steilen Felshängen zur Meerenge hin aufgestellt sind. Es wirkt, als sollte die Energie des scharfen Windes, der hier das ganze Jahr über weht, nicht nur zum Surfen zu nutzen sein. Für die Menschen, die auf Pateras, kleinen Booten die knapp fünfzehn Kilometer über das Meer machen, ist der Wind ebenfalls eine, wenn auch nicht die bestimmende Größe. Heute nacht heißt es, sollen wieder Hunderte von illegalen Grenzgängern unterwegs sein. Ab Mitternacht zieht dicker Nebel auf und der Sturm, der vorgestern noch die Gemeinschaftszelte des Grenzcamps abgedeckt hat, hat sich gelegt.

Es sind ungefähr einhundert junge Menschen, die sich auf dem
Campingplatz "Rio Jara", nach eigenem Bekunden der "internationalste Campingplatz Europas", eingefunden haben. Ein Teil des offiziellen Geländes wurde für die Polit-Touristen abgesteckt, am Eingang ist eine Informationspunkt eingerichtet, hängt das Programm für die Worskshops und Arbeitsgruppen der nächsten Tage aus. Großer Wert wird auf Gruppendynamik gelegt: Stundenlange Diskussionen und grundlegende Einführungen in Abstimmungsprozesse, die offenbar zuerst darauf zielen, ja keine abweichende Meinung zu produzieren und auf so etwas wie alternativer Managementtheorie aufsetzen. Mediationsgruppen, Dynamikgruppe, Mediengruppe - die Selbstreflexivität der Unterhaltung am ersten Abend wird nur für kurze Zeit von einer Aktivistin aus Tarifa durchbrochen, die von den Einwanderern aus Afrika berichtet und welche Methoden die Guardia Civil anwendet, um der Situation scheinbar Herr zu werden.

Der Bürgermeister von Tarifa, ein Ex-Kommunist, der inzwischen weit rechts steht, hat das Grenzcamp zu Anfang unterstützt. Oder zumindest als nützliches Moment in seinem Kampf gegen die Madrider Zentralregierung angesehen, die ihm keine Mittel für die Unterbingung und Versorgung der Ankömmlinge zugesteht. Offenbar auf Druck der Politik mußte er einen Rückzieher machen und am Montag sah es lange Zeit so aus, als würden alle öffentlichen Veranstaltungen des Camps abgesagt oder untersagt werden. Am Abend gibt es dann die Nachricht, das Programm würde nun doch jeden Abend zwischen 21.00 und 1.00 Uhr morgens im Zentrum von Tarifa stattfinden können. Es gibt noch weitere gute Nachrichten: Der Show-Bus aus Barcelona ist endlich unterwegs, müßte im Laufe des Dienstags endlich hier eintreffen. Viele Freunde aus Deutschland trudeln ein, manche habe ich seit dem Camp 99 an der deutsch-polnischen Grenze nicht mehr gesehen, von anderen habe ich mich erst am Sonntag in Barcelona verabschiedet. Ich gehe spät ins Bett.


TUE 3 JUL TARIFA

Zu spät, um wie beabsichtigt auch wirklich um 7.30 Uhr aufzustehen und zu arbeiten. Ein Telefonanruf weckt mich gegen 10.00 Uhr: Es ist noch nicht letztlich bestätigt, aber die rumänische Fluggesellschaft TAROM, eine der wichtigsten Säulen im deutschen Abschiebesystem, will sich aus dem Geschäft mit der Beförderung von Zwangspassagieren zurückziehen. Die
letzten beiden der jeweils dienstags durchgeführten Sammelabschiebungen von Düsseldorf seien abgesagt worden,. das Innenministerium drehe durch, berichtet ein Journalist vom ZDF. Grund sind ein Aktionstag, bei dem vor ein paar Wochen alle Repräsantationen von TAROM in der Bundesrepublik
von Aktvisten besucht wurden und die Mitarbeiter eindringlich darauf aufmerksam gemacht wurden, welchen Ärger sogar große Konzerne wie Lufthansa seit zwei Jahren wegen der Abschiebungen haben. Der drohende Imageverlust, der aus westlicher Perspektive bei einem Unternehmen wie
TAROM kaum auszumachen ist, so gering ist deren Ruf hierzulande, scheint den Aktivitäten aber eine umso größere Effizienz zu verleihen. Je weniger TAROM zu verlieren zu haben scheint, umso größer ist die Angst des ehemaligen Staatsbetriebes vor weiterem Imageverlust.

Dann das erste Mal im Meer. Ein langer, breiter Sandstrand, der sich vom Ortsrand von Tarifa nach Westen erstreckt. Frischer Wind und hohe Wellen, die Atlantikküste hier ist eines der bekanntesten Surf-Paradiese Europas. Jetzt üben junge Leute, auf einem kurzen Brett und mit Hilfe einer Art Fallschirm über das Wasser zu rasen. Etwas weiter draußen passieren riesige Tanker die Meerenge von Gibraltar. Wir springen quer, durch und im Rücken der Wellen ins Wasser, das salzig und manchmal auch
etwas brackig riecht. Irgendwann schmerzen die Trommelfelle von der Wucht, mit der das Wasser andauernd gegen die Ohren prallt.

Beinahe hätten wir den ersten Interviewtermin versäumt, weil ich im Sand eingeschlafen bin. Auf dem Weg zum Camp trete ich dann auch noch in eine Glasscherbe und treffe mit blutendem Fuß Faisal, der aus dem Rif-Gebirge kommt. Er erzählt, von den verschiedenen Etappen der Migration aus seinem Land, die in den 20er Jahren nach der Niederschlagung des großen
Aufstand der Berber gegen die spanischen Kolonialherren begann. Am Anfang, sagt er, war Auswanderung ein spontanes Abenteuer. Das Dorf verlassen, in eine andere Welt aufbrechen. Große Kriege und Hungersnöte im Norden Marokos zwangen Zigtausende in die Städte, allen voran Tanger.
Nach dem zweiten Weltkrieg und dem Ende der Kolonialherrschaft dann begann die eigentliche Migration: Junge, männliche Arbeitskräfte zogen in den Norden Europas, um dort in den großen Fabriken zu arbeiten. Heute, sagt er, befinden wir uns in einerneuen Situation: Durch die Globalisierung würden alle sozialen und kulturellen Kategorien durcheinandergrebracht. Doch nicht nur das: Globalisierung erzeuge andauernd neue Differenzen, soziale Unterschiede zwischen den Menschen.
Doch während bis in die 90er Jahre niemand über Migration sprechen wollte, gäbe es heute eine Generation, die mehr mit diesem Thema zu kämpfen hat als jede andere zuvor. Diese Generation sei in der Lage, ihre Würde zurückzuerobern, wenn sie gegen ein Europa, das seine Grenzen schließt, das Menschenrecht der Bewegungsfreiheit realisiert.

Zwei Minuten, nachdem Faisal zu sprechen begann, merke ich, dass die frischen Batterien, die ich heute erst gekauft hatte, leer sind. Also keine Tonaufnahme. Egal, denn ein paar von Indymedia filmen das Interview, das alle paar Sätze erst ins Spanische und dann ins Englische übersetzt wird. Ich schreibe mit der Hand in mein Notizbuch. Später beim Kodieren des Videobandes stellt sich heraus, dass die Tonspur kaputt
ist. Also gibt es keine Aufzeichnung.
Faisal ist zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, hat einen Bauch und einen Schnauzbart. Er spricht sehr allgemein, aber mit einer Vielzahl rhetorischer Stilmittel und Wendungen. Junge Menschen, sagt er, hätten heute keinen anderen Ausweg als Migration. In seinem Dorf seien alle Einwohner potentielle MigrantInnen. Jeder und jede wird früher oder später versuchen, wegzugehen. In einem Land aber, in dem es ordentliche
ökonomische oder soziale Bedingungen gibt, gäbe es keine Grund
auszuwandern, sagt Faisal. Er spricht für eine politischen Plattform, die seit den 60er Jahren in Südspanien und Nordmarokko ein politisches und kulturelles Netzwerk aufgebaut hat. In Gewerkschaften, Frauengruppen, Menschenrechtsorganisationen geht es darum, die
Besonderheit der nicht-arabischen Kultur des Amazirh zu verteidigen - auf Deutsch würde dazu wohl "Berberstämme" gesagt werden. In Wirklichkeit handelt es sich aber weniger um einen ethnischen als einen großen sozialen Konflikt, der sich über ganz Nordafrika und vor allem Marokko und Algerien erstreckt. Die Zentralregierungen verweigerten den
aufsässigen Bergbewohnern, die in großen Gebieten die
Bevölkerungsmehrheit ausmachen, systematisch jegliche Unterstützung. Es gäbe so gut wie keine Infrastruktur, deswegen gehe ihr Kampf um die Entwicklung der Region.

Seit Spanien seine Grenze für MarokkanerInnen geschlossen hat, sei die Lage für die meisten Menschen noch schlimmer geworden. Jeden Tag finden wir Tote an unseren Küsten, sagt Faisal. Von der Situation profitierten die Netze der Schlepper, die den Menschen, die auswandern wollen, enorme
Mengen Geld abknöpfen. Wer heute in die Pateras steigt, um sich nachts an den Strand von Tarifa bringen zu lassen, sind vor allem Frauen und Kinder, sagt Faisal. Während früher arbeitswillige junge Männer migrierten, handele es sich seit ein paar Jahren hauptsächlich um Frauen und Kinder, die drüben angekommen meist zur Prostitution gezwungen würden.


WED 4 JUL TARIFA

In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch ziehen dicke Wolken auf. Die Guardia Civil, also paramilitärische Einheiten, die hier den Küstenstreifen bewachen, sollen angeblich 200 Menschen aus dem Meer gefischt haben, die jetzt in einem Lager in Tarifa untergebracht sind. Wieviele es geschafft haben, durchzukommen und sich die Nacht über im
Gebüsch hinter dem Strand zu verstecken, kann natürlich niemand sagen. Fünf Menschen jedoch sind frühmorgens am Camp aufgetaucht und sollen dem Vernehmen nach rasch in Sicherheit gebracht worden sein. In Tarifa und Umgebung gibt es ein informelles Netzwerk von Menschen, die sich mit
ebenso großer Entschlossenheit wie Diskretion für die unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen einsetzen, die nachts in den Booten ankommen. Die Menschen, die dieses Netzwerk bilden, befinden sich in nicht unerheblichen Positionen, heißt es. Zum Camp selbst halten sie verständlicherweise Distanz. Trotzdem besuchen uns immer wieder einzelne und berichten von ihrer Arbeit. In den nächsten Tagen soll eine Interviewtour zusammengestellt werden, um mehr Informationen ausfindig
zu machen.

Ich schreibe einen Artikel, gehe zum Strand, mache ein paar Dutzend Emails. Ein Tag, an dem nicht viel passiert. Am Abend wird auf dem großen Platz in Tarifa "Bread and Roses", der neue Film von Ken Loach gezeigt. Das Camp ist inzwischen auf ungefähr 300 Menschen angewachsen, die sich den ganzen Tag über in zahllosen Workshops zu Themen wie die Regelungen des neuen spanischen Ausländergesetzes oder Kampf gegen
Abschiebungen treffen. Auch der Showbus aus Barcelona ist endlich mit einiger Verspätung angekommen.


THU 5 JUL TARIFA

Khalil ist seit letzten Dienstag hier. Er zeigt auf den kleinen Berg,
der am Ende des langen Sandtrandes bis ans Wasser reicht. 1000 Dollar hat die Überfahrt gekostet. Er erzählt von der Angst, die er bei den zehn Meter hohen Wellen in dem kleinen Holzboot hate, in das sich 50 Menschen gezwängt hatten. Er hatte mitgeholfen, den Motor mit an Bord zu bringen, hat einen falschen Schritt gemacht und fiel noch vor Beginn der
Überfahrt ins Wasser. Die ganze Strecke über das Meer also in nassen Kleidern. Jetzt lacht er. Gut zwei Stunden habe es gedauert, bis sie endlich in Tarifa ankamen und sich in den Wäldern versteckten, bis der Tag anbrach. Der 23-jährige aus Casablanca ist ein guter Fußbalspieler. Er hofft, einen Club im Norden, bei Barcelona zu finden und dann Papiere
zu bekommen. Wenn es nicht klappt, will er zu seinen Brüdern nach Turin.

Ihm ist wie vielen anderen in diesen Tagen von dem informellen
Unterstützungsnetzwerk in Tarifa und Umgebung geholfen worden. Das erste, worum die Leute, die wir finden, bitten, sei, zuhause bei der Mutter anrufen zu dürfen, um zu sagen: Ja, ich habe es geschafft, ich bin in Europa, ich bin gesund, mir geht es gut. Nieves organisiert seit elf Jahren so etwas wie die Erstaufnahme von Einwanderern, die nicht in den Fängen der Guardia Civil landen. Sie werden angerufen, organisieren
einen Transport, kümmern sich um Verletzte, kämpfen gegen
Rückschiebungen, überlegen die Weiterreise oder Legalisierung. Was sie macht, sei eine Selbstverständlichkeit, sagt Nieves. Dazu müsse man gar nicht nachdenken, das seien doch ganz natürliche Gesten, eine Frage der Menschlichkeit. Sie ist stolz darauf, dass in Tarifa kein Mensch die Guardia Civil rufe, wenn ein Flüchtling im Garten sitzt oder an der Tür klingelt. Die Leute wissen, dass sie bei uns anrufen können.

Während wir uns unterhalten, klingelt drei Mal das Telefon, rasch werden Abholungen und Transporte organisiert. Vor der Polizei habe sie keine Angst. Sie wird nur wütend, wenn wie neulich wieder ein Artikel in der Zeitung erscheint, auf dem sie mit einem illegalen Grenzgänger abgebildet ist, und dieser dann zwei Tage später verhaftet und abgeschoben wird. Die Medien, sagt sie, seien nur an Horrorgeschichten interessiert. Sie selbst habe gesehen, wie ein Fotograf einmal den nackten Leichnam eines jungen Mädchens fotografiert habe. Begonnen habe
für sie alles, als sie 1989 am Strand vor ihrem Haus den toten Körper eines Flüchtlings gefunden habe. Damals hätten die meisten Menschen in Tarifa noch gedacht, die Afrikaner kämen mit den Pateras, weil sie kein Geld für die Fähre hätten. Nieves zählt die Toten, die allein an der spanischen Küste angespült werden: Über zweitausend Menschen seien in den letzten elf Jahren bei der Überfahrt umgekommen. Ihr Hass und
Widerwillen gegen die Militarisierung der Meereenge, die Abschottung der Grenze kommt aus tiefstem Herzen, trotzdem bemüht sie sich um immer neue und immer vernünftigere Gründe: Algeciras sei 22 Kilometer von Tarifa entfernt, Tanger nur 15. Da sei doch klar, wer ihr näher stehe. Was hier passiert, ist ein Krieg, und was Nieves bewegt, kann sie in einem Satz
zusammenfassen: Wenn sie morgens aufsteht und von ihrer Dachterasse aufs Meer blickt, kann sie sich nicht sagen: Was für ein schöner Tag! Sie muss sofort denken: Heute werden wieder Menschen sterben.


Mit dem Camp will sie besser nichts zu tun haben. Die AktivistInnen würden nur die Polizei anlocken und provozieren. Was die Menschen hier vor Ort leisten, geschehe besser diskret und ohne großes Aufhebens. Aus ihren Worten spricht Stolz, aber auch eine gewisse Resignation. Denn natürlich sind es nicht viele, denen sie helfen können. Vielleicht ein paar Hundert pro Jahr. Es hat einen gewissen Aufwand bedeutet, den Termin bei Nieves zu bekommen. Wir sprechen zu fünft mit ihr und ihrem
Freund: Videoaufnahmen von zwei Medienaktivistinnen aus "Laboratorio", einem berühmten besetzten Haus im Zentrum von Madrid, ein Kölner, der Tonaufnahmen macht, und ein Fotograf. Als abends dann die Tür hinter uns zufällt, sind wir alle zutoiefst beeindruckt. Wir hatten viel über dieses Netzwerk gehört, mit einer solchen Entschlossenheit, wie sie Nieves an den Tag legt, hat niemand rechnen können. Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schiesst: Was machen wir eigentlich hier? Was wir
tun können, ist doch völlig nutzlos - verglichen mit dem, was Menschen wie Nieves hier leisten. Eine der Videofilmerinnen aus Madrid korrigiert mich: Nein, es geht genau darum, solche Menschen zu treffen, sich untereinander zu vernetzen, diese Erfahrungen, die wir eben gemacht haben, weiterzugeben, andere Menschen zu ermutigen. Ich erzähle von den
Camps an der deutsch-polnischen Grenze, von Unterstützungsarbeit in Deutschland und den Problemen damit, dass Dinge, die hier in Tarifa offenbar selbstverständlich sind, dort undenkbar wären. Trotzdem war es auch an der EU-Ostgrenze so, dass immer wieder Menschen schüchtern ins
Camp kamen, und davon berichtet haben, wie sie Flüchtlingen geholfen hätten. Sie seien nur verunsichert, weil sie nicht wüssten, ob das nun richtig gewesen sei.

Tagsüber hatte ich das erste Mal seit zwei Jahren wieder eine Kamera in der Hand. Es ging um Kontrastmaterial: Wasser, Sand, Wind. Später dann auf der Suche nach dem gewöhnlichsten Bild der Welt: Wie die Sonne untergeht über der Straße von Gibraltar, die letzten Strahlen sich im Wasser brechen, wie eine rote Kugel hinter dem schwarzen Berg verschwindet, der Stelle, an der Khalil das erste Mal das europäische Festland betreten hat.


FRI 6 JUL TARIFA


Wir warten auf den Chef des Roten Kreuz in Tarifa. Als Treffpunkt hatte er eine Bar direkt gegenüber der Guardia Civil vorgeschlagen. Wir trinken Kaffee und haben direkten Blick auf die andere Seite der Grenze: Gefangenentransporte, die alle paar Minuten das Militärgebäude verlassen und Einwanderer, die in der Nacht aus dem Meer gefischt wurden, abtransportieren. Manche schauen aus dem vergitterten Fenster.

Mit rund drei Stunden Verspätung kommt Pepe, ein kräftiger Mann, vielleicht Ende Dreißig herbeigestürzt, untersetzt und unrasiert. Einer, dem von Weitem schon anzusehen ist, dass er gelernt hat, anzupacken. Es gibt Gerüchte, dass er zumindest früher einmal ebenfalls ein Teil des informellen Unterstützungs-Netzwerkes war. Auf seiner roten Weste prangt das Schild: "Coordinador". Er hatte viel zu tun heute. 102 Illegale sind
in der Nach aufgegriffen worden und müssen versorgt werden. Versorgung heisst hier: Die von Überfahrt und Verhaftung völlig erschöpften Flüchtlinge in der Polizeiwache in Gefangenentransporten ins Internierungslager des Roten Kreuzes schaffen. Dort dann Essen ausgeben und ein paar Decken, bis spätestens nach 72 Stunden der Transport nach Algeciras ins Abschiebelager oder für die wenigen, die in den Genuss
eines so genannten Asylverfahrens kommen, in ein Flüchtlingslager folgt.

Sobald die Kamera angeschaltet wird, wirkt Pepe steif und angespannt. Tarifa sei Nummer Eins in Sachen Solidarität. Keine andere Stadt in der Welt wuerde soviel für MigrantInnen tun. Und schuld an allem sei einzig die marokkanische Regierung, der es obliege, den Flüchtlingsstrom einzudämmen. Vorgestanzte Sätze, Phrasen, Allerweltsweisheiten, die der Mann ohne mit der Wimper zu zucken von sich gibt, abgebrüht von all dem
Pech, Leid und Verzweiflung, das er seit 1992 nicht nur rund um die Uhr unmittelbar vor Augen, sondern obendrein zu verwalten hat. Die dreißig Container des Roten Kreuzes stehen bewacht von der Guardia Civil auf einer weiträumig abgesperrten Hafenmole unterhalb der alten Festung von Tarifa. Vor der Türe stehen die Schuhe der Menschen, die in den Containern eingesperrt sind, dort in einem Aufenthaltsraum an ein paar
Tischen sitzen und warten, was als nächstes kommt. Alle aus Marokko werden sofort zurückgeschoben. Menschen aus Ländern unterhalb der Sahara haben eine kleine Chance auf ein Verfahren, wenn für das Land aus dem sie stammen nicht schon ein Rückübernahmeabkommen gilt. Der scharfe Wind
der letzten Tage nimmt langsam ab und vor der Mittagssonne gibt es weit und breit keinen Schutz.

Ich merke, wie ich wütender werde. Nach gut drei Tagen Gesprächen und fortwährenden Diskussionen, was diese Grenzcamp soll und leisten kann, macht sich Hilflosigkeit breit angesichts einer Situation, die sich immer brutaler und unvermittelter darstellt, je mehr wir davon in Erfahrung bringen. Hier ist Krieg, sagt Annouk, eine Belgierin, die seit vier Jahren in einem besetzten Haus in Madrid lebt und in einem Kollektiv Videofilme macht.


Zurück im Camp geht es endlich zur ersten Aktion. Außerplanmäßig hatte sich eine Gruppe zunächst vor allem Deutscher zusammengefunden, die sich nach dem langen Reise nicht mit Arbeitsgruppen und Workshops zu interessanten Themen zufrieden geben wollen. Wir fahren mit unserem
Mietwagen nach Algeciras, nehmen ein Surfbrett, Luftmatrazen, Handtücher und einen Stoß Schilder im Kofferraum mit. Ich zwänge mich mit Valery auf den verbliebenen Platz auf der Rückbank. Sie erzählt vom Janitor-Streik in den USA, was sie und ihre Gewerkschaftskollegen in Zukunft vorhaben und wie wir über den Atlantik hinweg zusammenarbeiten können. Besonders angetan ist sie von der Deportation.Class Kampagne gegen Abschiebungen. Ich reagiere verhalten. Nach einer halben Stunde Autofahrt in die Hafenstadt Algeciras ist mir von der kurvenreichen Fahrt, den Telefonaten und dem Scrollen im Telefonbuch meines Handtelefons so schlecht, dass ich mich fast übergeben muss.

Immerhin wissen wir jetzt, wo wir hin müssen: In den Fährhafen und dann bis es nicht mehr weitergeht oder nur noch auf das Schiff nach Tanger. Beim dritten Versuch schaffen wir es endlich, die außergewöhnlich scharfen Kontrollen der Guardia Civil zu passieren. Unsere Ausweise werden registriert, Valery mit dem mexikanischen Pass ist vorsichtshalber vorher ausgestiegen. Auf dem Parkplatz treffen wir ein Dutzend Freunde aus Deutschland, die ihre Herkunft und den Zweck ihres
Aufenthaltes aufreizend offen zur Schau tragen: Sonnenhüte, Badehosen, bunte T-Shirts und Rucksäcke, Sandalen. So läuft hier sonst niemand herum. "Touristen gegen Abschiebungen" lautet das Motto der Aktion, die in Zusammenhang mit einigen anderen im Camp geplanten mehr oder weniger spektakulären Ideen steht. Wir wundern uns, warum sonst niemand kommt.
Auch vor. den Kontrollen warten höchstens ein paar bekannte Gesichter. Dann erfahren wir, dass die gesamte Unternehung angebrochen wurde, weil der Bus aus dem Camp nach nur ein paar Kilometern von der Guardia Civil angehalten und an der Weiterfahrt gehindert wurde. Vier Menschen, die dann aufs Busdach geklettert seien, und ein Transparent entspannten,
seien sofort festgenommen worden. Alle sind inzwischen vor der Wache der Guardia Civil in Tarifa und wir stehen konsterniert auf dem Parkplatz, umringt vor Uniformierten, die sich diskret in einem weiten Kreis um die eigenartigen Touristen zusammengezogen haben. Valery meint trocken, wir
wären zu wenig, um eine kritische Masse darzustellen. Ander machen wiederum den langen Weg geltend, und dass jetzt, wo wir schon hier sind, auch etwas gemacht werden müsse. Nach einer kurzen Besprechung ist klar:
Wir fälschen die Aktion. In Sekundenschnelle werden alle Requisisten des Touristenprotestes angelegt, zwei Filme durch die Kamera gejagt, ein Stoß Flugblätter an den Windschutzscheiben der parkenden PKW's
befestigt. Die Guardia Civil grüßt militärisch. Die meisten Utensilien sind bereits wieder im Auto verstaut, als der Soldat uns darauf hinweist, dass wir keine Berechtigung haben, unser Auto hier abzustellen, solange wir kein Ticket für die Fähre vorweisen können. Ich hatte statt Fahrzeug, vehiculo, dummerweise pelicula, also Film verstanden, und war schon in Abwehrstellung gegangen. Einer, der besser Spanisch kann, sagt, dass wir das nicht wussten und dass es uns leid
täte, aber wir hätten uns nun anders entschieden und würden nun doch lieber wieder nach Algeciras zurück.

Wir sind froh, uns unter den gegebenen Umständen anständig aus der Affaire gezogen und getan zu haben, was offenbar getan werden konnte. Auf dem Rückweg nach Tarifa halten wir oft an und fotografieren. Die Luft ist klar und Tanger wieder einmal zum Greifen nahe. Wir machen Pläne, ich lade Valery nach Deutschland ein, wir verabreden ein Interview. Beim Fotografieren findet Armin einen alten marokkanischen
Gummi-Schuh, den ein Flüchtling wohl verloren hat, als er sich im Wald versteckte. Schuhe haben hier redundante Symbolik: Das, was die Menschen auf der Flucht wovor auch immer und wohin auch immer zurücklassen. Das, was von ihnen am schnellsten an den Strand gespült wird, wenn sie
unterwegs ertrinken. Nieves hatte eine Samlung auf ihrer Terasse, ein Künstler hat neulich eine ganze Menge davon zu einer Installation zusammengetragen. Als wir in Tarifa ankommen, sind die vier Gefangenen wieder frei und wir gehen mit Valery und den Leuten aus Madrid schnell ein Bier trinken. Wir reden uns in Rage. Vier Stunden lang, über Community- und Gewerkschaftsarbeit, Migration und Selbstorganisation,
Katholizismus, Rules for Rebels und die New Actonomy, IT-Experten und Low-Wage-Worker, Arbeiten in Netzwerken anstatt Leninismus, das Primat der Praxis und die Rolle von Pop. Es hat den Anschein, als verstünden wir uns blind, obwohl wir uns nie zuvor gesehen hatten und aus völligen unterschiedlichen Kontexten kommen. Valery ist zufällig in den USA
geboren, Tochter eines brasilianischen Intellektuellen, der lange Zeit im Gefänfgnis verbrachte, mit der Mutter, die eine wichtige Figur in den Protesten an der UNAM war, in Mexico DF aufgewachsen. Vielleicht handelt es sich bei dem, was sonst Globaliserungsgegner genannt wird, in Wirklichkeit um eine eine Generation von Kindern der Revolution und der Revolutionäre, die herangewachsen ist. Arrantxa zum Beispiel, eine der
Videofilmerinnen aus Madrid, ist die Tochter eines baskischen
Kommunisten, der unter Franco ebenfalls lange im Knast saß.

Zurück im Camp treffe ich einen, der bei "Pateras por la vida" mitmacht. Während wir uns unterhalten klingelt wieder das Telefon. Nach einigem ungläugigen Nachfragen bin ich mir endlich sicher, zu verstehen, worum es geht. An der Schlepper-Mafia auf der einen Seite, an der ebenso korrupten wie brutalen Guardia Civil vorbei, Menschen vom einen Land ins andere zu bringen. Faire Preise, hohe Erfolgsaussichten, weil möglichst
seriös und zuverlässig. Spät nachts schneide ich die Aufnahmen zusammen, die ich am Tag zuvor am Meer gemacht habe und die am nächsten Abend gestreamt werden sollen. Schnell und roh, Rauschen, am Ende zwei Minuten Sonnenuntergang. Bei Sonnenaufgang ins Bett.


SAT 7 JUL TARIFA


Interview mit Valery um 10 Uhr. Sie muss gleich zum Zug gebracht werden, wir beeilen uns, sie ist nicht zu bremsen: Wie sie 1986 auf die Idee kam, Gewerkschaftsarbeit zu machen. Was die Bedeutung der Dienstleistungsindustrie ausmacht. Wie wichtig es ist, an der Basis, in den Communities anzufangen, kurzfristig Erfolge zu erringen, neue Aktionsformen zu entwickeln. Wie der Streik der Janitors begann. Über die Zusammenarbeit zwischen Latinos, asiatischen EinwanderInnen,
Schwarzen. Sie ist optimistisch und hat gelernt, in unterschiedlichen Situation jeweils angemessen zu argumentieren. Am Ende des Interviews hat sich wieder eine kleine Menschenmenge hinter der Kamera versammelt,
die zuhört. Ein Marokkaner kommt vorbei und steigt in die Diskussion ein. Er fragt, glaube ich zumindest, was so wichtig daran sein soll, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die sich nicht in derselben Lage befinden.
Im Internetcafe laden wir die ersten fünf Minuten Video aus Tarifa hoch. Es scheint zu klappen. Aus dem Camp heraus hat sich eine Nacktdemonstration formiert und ist den Strand entlang. Alle Teilnehmer haben Buchstaben auf den Rücken gemalt, die zusammengenommen dann Parolen wie "Kein Mensch ist illegal" oder "Deportation Stop" sowohl auf
spanisch wie auf arabisch bilden. Ein skurriles Bild für die Touristen, die sich am Strand breit gemacht haben. Auf einem Masten am Hafen wird ein Transparent befestigt.

Gleich daneben mitten am Strand hat - unabhängig vom Camp - ein Fotograf eine Ausstellung aufgebaut. Fernando Garcia kommt aus der Gegend und fotografiert seit Anfang der 90er Jahre die Grenze zwischen Spanien und Marokko. Heute hat er eine besondere Ausstellungseröffnung: Auf Staffleien stehen riesige Abzüge seiner Bilder im Sand. Einige fast genau dort, wo sie aufgenommen wurden. Garcia ist einige Male von der Guardia Civil oder den Schleppern mitgenommen worden und hat
fotografiert, was ihm vor die Linse kam: Tote, die am Strand angespült werden, Festnahmen, Abfahrt, Ankunft, Strandung. Die meisten Bilder sind gewöhnlicher Fotojournalismus, schockierend nur auf den ersten Blick. Manche ästhetisieren das Elend geradezu oder beuten einigermaßen ruchlos
den Tauschwert aus, den Unglück haben kann, sofern die Betrachter sich auf der sicheren Seite wissen. Andere Bilder aber sind großartig, vor allem aber ist es die Inszenierung in einem kaum mehr auszuhaltenden Plan sequence: Betrachter, die vor Fotos verweilen, die illegale Grenzgänger zeigen, wie sie am Strand anlangen, dahinter Touristen, die sich genau an derselben Stelle sonnen oder sorglos ein Bad in denselben
Wellen nehmen.

Die Zeit läuft, um 21 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit soll der Live Stream von den vier gleichzeitig stattfindenden Grenzcamps starten. Es wird hektisch. Ins Hotel und zurück, Upload mit GPRS Telefon, der trotzdem fast eine Stunde für zwei mickrige Megabytes braucht und dazwischen dauernd abbricht. Die VideofilmerInnen schneiden schnell noch die Bilder des Tages, niemand weiss, wann alles fertig gerechnet, gespeichert, kodiert und hochgeladen sein wird.

Ito, die Tochter des Campingplatzbesitzers, erzählt, wie das informelle Netzwerk gegründet wurde. Du gehst am Strand entlang und schaust auf eine gewisse Art und Weise, sagt sie. Und dann merkst du auf einmal, dass dir andere Menschen entgegen kommen, die sich ähnlich umsehen. Sie
macht keine großen Worte, aber aus jeder Silbe, jedem Blick und jeder Geste wird deutlich, dass sie das, was der Staat für illegal zu erklären versucht, in einem außerordentlich kostbaren Reflex für besonders unterstützenswert hält. Und je mehr der Staat versucht, sie davon abzuhalten, das zu tun, was sie für richtig erachtet, umso unerbittlicher wird sie dies verfolgen. Deswegen sind wir hier und nur deswegen können wir hier überhaupt zelten. Das Camp, das durchzuführen nur kurz vor dem eigentlichen Beginn so aussichtslos schien, konnte nur
wegen Menschen wie Ito stattfinden. Gleichzeitig brauchen diese Menschen aber keine Nachhilfestunden, erst recht nicht von politisch unerfahrenen und selbstverliebten Großstädtern. Überzeugungsarbeit ist hier nicht notwendig und an einer wie auch immer gearteteten Eskalation der Verhältnisse hat niemand Interesse. Das Paradoxe an Tarifa ist, dass alles, was gemacht werden könnte, und egal, wie es gedreht und gewendet
wird, nichts an der alltäglichen Grausamkeit der Grenze zu ändern im Stande scheint. Schlimmer noch: Alles Erdenkliche dürfte den Status quo bloss verfestigen. Es ist das Gegenteil von allem, was ich aus Tanger kenne. Wir sind einfach auf der falschen Seite. Wir sehen nicht das Gute, also die Leute, die durchkommen, sondern nur diejenigen, die Pech haben und hängenbleiben.

Nach dem Interview stürzen wir los. Beim Anfahren versuche ich das CD-Laufwerk des iMac, den das Museum in Barcelona dem Showbus spendiert hat, zu öffnen, um die CD mit den Filmen einzulegen. Wir drehen um und suchen nach jemand, der sich mit Apple Macintosh auskennt. Irgendwann kommen wir selbst auf die Idee, F12 zu drücken. Dann mit 120 Stundenkilometern nach Tarifa, ich kodiere für den Stream am Beifahrersitz. Wir laden die Daten auf den Server nach Berlin und werden kurz vor Ende der Übertragung rausgeschmissen, weil wir allen anderen
Kunden die schäbige Bandbreite nehmen. Zu dritt postieren wir uns vor dem Computer und schützen das Kabel, wie eine Person, die verhaftet werden sollte, verwickeln den deutschen Aussteiger, der sich hier mit ein paar Rechnern und einer ADSL-Verbindung den Lebensunterhalt vedient, in Diskussionen. Alles ist oben, wir gehen raus und wissen, dass wir hier nie wieder zurückkehren brauchen.

Wir sitzen im Cafe. Nico, einer der Organisatoren des Camps zieht eine wenig euforische Bilanz. Er freut sich, sich endlich wieder auf seine Arbeit vor Ort in Malaga konzentrieren zu können. Ein halbes Jahr hat er in die Campvorbereitung gesteckt, jetzt wirkt es, als sei er ein wenig enttäuscht, dass nicht mehr dabei herausgekommen ist. Ich versuche dagegen zu halten: Wichtig sind die Dinge, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind, und erst recht nicht in der letzten Nacht.
Javier, ebenfalls aus Malaga, aber seit langem in London hält sich raus. Wir sind alle müde. Später schauen wir auf der Almeira noch den Live Stream, der inzwischen On-Demand vefügbar ist. Die Verbindung ist so schlecht, dass es nur eine Dia-Schau wird. Ich sitze mit den Leuten, die gefilmt haben auf den Stufen vor der Bühne und wir freuen uns trotzdem ungemein. Nächstes Mal wissen wir genau, wie wir es zu machen haben. Wahrscheinlich geht es nur darum. Oder eben im Gegenteil: Während wir Kühe neben den Camp in Polen bestaunen, schleppt die Küstenwache ein Schlauchboot mit Dutzenden Flüchtlingen in den Hafen. Vor unseren Augen rückt die Guardia Civil aus. Ein paar laufen dem Transporter nach, kommen bis auf zehn Meter an die Stelle, wo die MigrantInnen festgehalten werden. Die Guardia Civil wird nervös. Als einer zu nahe kommt, setzen sie sofort Elektroschockgeräte ein. Nebenan wirft die Dorfjugend mit Flaschen. Eine Open-Air-Party mit Kirmes-Techno hat
Hunderte angezogen, sich auf dem Parkplatz neben dem Hafen maßlos zu betrinken und zu bekiffen.


SUN 8 JUL TARIFA


Das letzte, was ich von Tarifa sehe, ist ein Bild, das Kinder an eine Böschung gemalt haben. Die Straße von Gibraltar, bevölkert von Booten, auf denen Pateras steht und in denen Schwarze sitzen. Dazwischen patrouillieren, ganz weiß im Gesicht und mit einem roten Kreuz auf der Brust, Krankenschwestern, die die armen Teufel aus den Booten herzlich in Empfang nehmen.


Nähere Infos zum Grenzcamp in Spanien unter

www.sindominio.net/ninguna/
(Seite der OrganisatorInnen des Grenzcamps, im Aufbau)

http://www.bordercamp.de.vu/
(Infos zum Camp, Karten, Hintergrundinfos zu spanischer, deutscher und europäischer Flüchtlingspolitik)

www.noborder.org

 

   
 

www.no-racism.net