Berlin: Polizei stürmt mit gezogenen Waffen psychotherapeutische Beratungsstelle für politisch Verfolgte - Klient stürzt sich in Panik aus dem Fenster

Presseaussendung des Vereins XENION
Presseberichte TAZ, Berliner Morgenpost, Berliner Zeitung,Tagesspiegel
und Anmerkungen des Flüchtlingsrat Berlin

Presseerklärung XENION
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Polizei stürmt mit gezogenen Waffen die Berliner Therapieeinrichtung für Folteropfer XENION – jugendlicher kurdischer Flüchtling stürzt sich aus Angst vor Abschiebung in Panik aus dem Fenster und erleidet lebensgefährliche Verletzungen

Am Freitag, den 24.11.00, verletzte sich der kurdische Jugendliche Davut K., der unsere psychotherapeutische Beratungsstelle für politisch Verfolgte, XENION, aufgesucht hatte, lebensgefährlich auf der Flucht vor einem Einsatzkommando der Berliner Polizei. In Panik stürzte er sich drei Etagen tief aus dem Fenster der Beratungsstelle, als Polizisten mit gezogenen Waffen die Beratungsstelle stürmten. Davut K. gehört zum Personenkreis von durch Folter schwer traumatisierten Flüchtlingen.

Der siebzehnjährige Davut K., Kurde aus der Türkei und als politischer Flüchtling nach Deutschland gekommen, wurde auf Bitten des Ausländerbeauftragten der Stadt Bitterfeld wegen manifester psychischer Symptome aufgrund schwerer Folterungen in der Türkei in der Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Folteropfer XENION behandelt. Er hatte dort am 24.11. um 10.00 Uhr einen Behandlungstermin. Gegen 10.30 Uhr kam er in sehr aufgeregtem Zustand in der Beratungsstelle an und erklärte sein verspätetes Erscheinen mit einer Fahrkartenkontrolle, die ihn aufgehalten habe. Dabei seien ihm seine Papiere abgenommen worden, darunter auch die aktuelle Terminvereinbarung. Er befürchtete, dass er in die Türkei abgeschoben würde. Bei der Ankündigung, dass man die Polizei rufen werde, ergriff er daher die Flucht und begab sich zu XENION. Der Jugendliche fürchtete, dass die Polizei ihm folgen könne, da eine Vereinbarung des Behandlungstermins mit Anschrift der Einrichtung, Datum und Uhrzeit bei den einbehaltenen Papieren war. Nach übereinstimmender Einschätzung des behandelnden Therapeuten und einer kontaktierten Rechtsanwältin sollte dies jedoch nicht als Grund für eine Fahndung ausreichen und es gelang zunächst, den Jugendlichen zu beruhigen.

Kurze Zeit darauf klingelte es am Hauseingang. Polizei stand vor der Tür und verlangte Einlass in die Einrichtung. Herr Koch, der behandelnde Psychotherapeut und Leiter der Einrichtung, empfing zwei Polizeibeamte im Treppenhaus, um den Grund für den Besuch zu erfahren. Da er zur Erklärung lediglich die Auskunft erhielt, dass es Hinweise dafür gäbe, dass sich eine gesuchte Person in den Räumen der Beratungsstelle aufhielte und auf ausdrückliches Verlangen weder ein Haftbefehl noch ein schriftlicher Fahndungsbefehl, noch ein Durchsuchungsbefehl vorgelegt wurde, verweigerte Herr Koch den Beamten unter Hinweis auf sein Hausrecht und den besonderen Charakter von XENION als psychotherapeutische Einrichtung für traumatisierte Flüchtlinge den Zutritt zu den Räumen und unter Berufung auf seine Schweigepflicht als behandelnder psychologischer Psychotherapeut die Auskunft darüber, wer sich in den Räumen aufhalte.

Nachdem sich die Beamten zunächst abweisen ließen, klingelte es einige Zeit später erneut an der Eingangstür der Beratungsstelle. Nachdem nicht sofort geöffnet wurde, wurde gegen die Eingangstür gehämmert oder getreten, sodass der Eindruck entstand, die Tür werde eingetreten. Herr Koch öffnete erneut die Tür, um mit den 5 oder 6 Polizistinnen und Polizisten zu sprechen. Trotz erneuter Weigerung des Leiters, den Beamten ohne Rechtsgrundlage Zutritt zu den Räumen zu gewähren und trotz deutlicher Warnung hinsichtlich der Gefährdung von Klienten von XENION, drängten die Polizisten in den Eingangsbereich der Beratungsstelle. Als ein Geräusch zu hören war, drangen Polizeibeamte laut schreiend mit gezogenen Waffen überfallartig in die Therapieeinrichtung ein. Herr Koch ersuchte sie sofort die Waffen einzustecken und erklärte sich angesichts dieser bedrohlichen Situation bereit, sie durch die Räume zu führen, aber ohne Erfolg. Die Beamten stürmten brüllend mit Waffen in der Hand die Räume, trotz der Hinweise auf mögliche Panikreaktionen von Klienten. Im Therapieraum fand sich der Betreffende aber nicht. Daraufhin zogen sich die Polizisten wieder in den Eingangsbereich zurück. Eine Beamtin öffnete dort das Fenster zum Lichthof und entdeckte den schwer verletzten Davut K.

Noch während des Einsatzes, als das Ausmaß des Schadens abzusehen war, wurden die Mitarbeiter der Einrichtung beschuldigt, die Verantwortung für den Vorfall zu tragen. Selbst dem Dolmetscher, der mit dem Verletzten sprach und sich bis zum Abtransport ins Krankenhaus um ihn kümmerte, wurden Platzverweis und Festnahme angedroht.

Mittlerweile haben wir durch eine Presseerklärung der Polizei erfahren, dass der Klient ohne gültigen Fahrtausweis unterwegs gewesen sein soll und dass Herr Koch wegen Behinderung polizeilichen Ermittlungen und unterlassener Hilfeleistung strafrechtlich belangt werden soll.

Davut K. floh vor einer drohenden Haftstrafe und erneuter Folter in der Türkei. Nach mittlerweile bestätigten Angaben ist er dort zu 11 Jahren und sechs Monaten Haft ver-urteilt worden. Die Angst vor Abschiebung motivierten seine Verzweiflungstat und be-schäftigten ihn sogar noch als er schwer verletzt im Lichthof lag. Der Anwalt habe darüber hinaus in dieser Woche die Bestätigung der Echtheit der vorgelegten Dokumente belegen können, die das Gericht, welches sein Asylverfahren bearbeitete, bisher ungeprüft als Fälschungen betrachtet hatte.
Die Einsatzleitung trägt die Verant-wortung für die tragischen Folgen ihres Einsatzes. Wir weisen den zynischen Versuch, dem Leiter der Einrichtung diese Schuld zuweisen zu wollen, aufs Schärfste zurück.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtung sind bestürzt und entsetzt über das Vorgehen der Polizei. Der Tatvorwurf des Fahrens ohne gültigen Fahrtausweis an den Jugendlichen steht in keinem Verhältnis zum wissentlichen und gewaltvollen Eindringen in die Räume einer Therapieeinrichtung für Folteropfer.
Die ausdrücklichen Warnungen des Leiters der Einrichtung und seine Hinweise der besonderen Schutzbedürftigkeit der Einrichtung und der dort behandelten Patienten zu übergehen, betrachten wir als gefährlich, grob fahrlässig und jenseits aller Verhältnismäßigkeit.
Es ist unerklärlich, wieso die Beamten die Aufforderungen des behandelnden Therapeuten und Leiters der Einrichtung ignorierten und sich offensichtlich ohne ausreichende Rechtsgrundlage mit Gewalt Zutritt verschafften. Wir fordern die politisch Verantwortlichen auf, zu klären, wie es zu den eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen und den derart unverhältnismäßigen Übergriffen kommen konnte.
Die von den Polizeibeamten aufgefundene Terminkarte der Beratungsstelle XENION hätte andere Formen der Ermittlung zur Folge haben müssen, als das überfallartige Vorgehen des Einsatz-kommandos. Erfahrenen und besonnenen Beamten müsste bekannt sein, dass Menschen, die sich einer psychotherapeutischen Behandlung nach schwerer Trau-matisierung unterziehen, nicht in der Lage sind, eine derartige retraumatisierende Belastung auszuhalten.

Wir befürchten, dass ohne grundsätzliche Änderungen in der Einstellung der Polizei gegenüber politisch verfolgten Flüchtlingen und gegenüber therapeutischen Schutzräumen für Opfer von Folter und politisch motivierter Gewalt, sich derartige Vorfälle wiederholen können. Menschen, die aufgrund von Verfolgung und Folter an behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen leiden, sind keine gefährlichen Kriminellen.

Die Aufgabe von XENION ist die psychotherapeutische Behandlung und Beratung politisch verfolgter Flüchtlinge und Folteropfer. Für diese Arbeit engagieren sich die Mitglieder des Trägervereins und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von XENION. Für seine Arbeit wird der Verein vom Berliner Senat, der Europäischen Union und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR finanziell unterstützt und genießt seit Jahren hohe Anerkennung für seine fachliche Arbeit und sein humanitäres Engagement. Polizeiaktionen wie am 24. November zerstören nicht nur die physische und psychische Gesundheit einzelner Flüchtlinge und die Arbeitsgrundlage von XENION, sie zerstören auch die das humanitäre Klima in unserem Land und dieser Stadt. Auch und gerade die politisch Verantwortlichen, die noch Anfang dieses Monats zum "Aufstand der Anständigen" aufriefen, sind zur Stellungnahme und zum Handeln aufgerufen, ggf. auch dazu, die Polizei dieser Stadt in ihre Schranken zu weisen.

Berlin, den 27.11.2000 M. Schmude (Vorsitzender)
XENION Psychotherapeutische Beratungsstelle für politisch Verfolgte
Roscherstraße 2a 10629 Berlin
Tel: 323 29 33 Fax: 324 85 75
e-mail: xenion@bln.netdiscounter.de

 

TAZ Berlin vom 25.11.2000
DAVUT K. ZUR FLUCHT GETRIEBEN
Lebensgefährlich verletzt: 17-jähriger traumatisierter Kurde sprang aus dem Fenster einer psychotherapeutischen Praxis - weil sich Beamte mit gezogener Waffe Zutritt verschafft hatten
von BARBARA BOLLWAHNDE PAEZ CASANOVA.
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Ein 17-jähriger Kurde aus der Türkei ist gestern Vormittag in den Räumen der psychotherapeutischen Beratungsstelle für politisch Verfolgte "Xenion" aus dem Fenster gesprungen und hat sich dabei lebensgefährlich verletzt. Der Grund: Mehrere Polizeibeamte waren mit gezogener Waffe in die Praxisräume in Charlottenburg eingedrungen. Kurz zuvor war Davut K., der im April dieses Jahres aus der Türkei in die Bundesrepublik eingereist und gestern auf dem Weg zur psychotherapeutischen Behandlung war, bei einer BVG-Kontrolle ohne Fahrschein angetroffen worden. Gegen den ausdrücklichen Willen des Therapeuten verschafften sich die Polizisten Zugang zu der Beratungsstelle. Aus Angst vor einer Abschiebung stürzte sich der Mann, der im vergangenen Jahr in der Türkei zu einer 15-jährigen Haftstrafe verurteilt wurde, aus dem dritten Stock. Seitdem liegt er unter Polizeibewachung im Steglitzer Universitätsklinikum. Ein Polizeisprecher rechtfertigte gestern das Eindringen in die Praxisräume mit dem Vorliegen eines Straftatbestandes wegen Schwarzfahrens. Auch für das Ziehen der Dienstwaffen hatte der Sprecher eine simple Erklärung: "Zur Eigensicherung". Der behandelnde Therapeut, Dietrich F. Koch, zeigte sich empört darüber, dass die Beamten sich gegen seinen entschiedenen Willen Zutritt zur Praxis verschafften. "So etwas habe ich noch nicht erlebt." Nach seinen Angaben haben ihm die Beamten gesagt, dass ein Fahndungsbefehl gegen Davut K. vorliege. Koch: "Selbst bei Fluchtgefahr hätten sie vor der Tür warten können." Nachdem er zwei Beamte abgewiesen hatte, seien "fünf bis sechs Polizisten" erschienen, die ihn zur Seite drängten und aufforderten, zu schweigen. Dann hätten zwei Polizisten ihre Waffen gezogen und die Praxisräume durchsucht. Sowohl Kochs Angebot, sie zu begleiten, als auch die Bitte, die Waffen wegzustecken, seien ignoriert worden. Während die Beamten weiter nach Davut K. suchten, hörte der Therapeut ein unbekanntes Geräusch. Kurze Zeit später hatte er die Erklärung: Als eine Beamtin durch ein Fenster auf den Hof schaute, sah sie den Gesuchten auf dem Hof liegen. Die Beamtin, so Koch, habe dann zu ihm gesagt: "Das haben Sie nun davon." Der Therapeut, dem ein Strafverfahren angedroht wurde, erwägt rechtliche Schritte gegen die Polizisten. Denn: "Ich fühle mich als Therapeut verpflichtet, meine Praxisräume und die Patienten zu schützen." Nach Angaben des Anwaltes von Davut K., Dündar Kelloglu, kam sein Mandant vor etwa drei Wochen auf Vermittlung der Ausländerbeauftragten in Bitterfeld zu der psychotherapeutischen Beratungsstelle "Xenion" nach Berlin. Kelloglu hat mehrere Wochen lang die Gründe für das Ausreisen seines Mandanten aus der Türkei recherchiert. Das Ergebnis: "Die Gefahr einer Festnahme bei Rückkehr besteht." Davut K. wurde, so der Anwalt, im Juli 1999 in der Türkei mit der Begründung verurteilt, er sei Mitglied einer terroristischen Organisation (der PKK). "Das bestreitet mein Mandant aber", so der Anwalt. Weil sich Davut K. im Rahmen des Reuegesetzes bereit erklärt habe, eigene Leute zu denunzieren, sei die Vollstreckung der Haftstrafe ausgesetzt worden. Die Freilassung habe Davut K. zur Einreise nach Deutschland genutzt. "Er wollte nicht denunzieren und hatte Angst, dass er wieder ins Gefängnis kommt und gefoltert wird." Doch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge habe den Asylantrag "ohne Überprüfung als offensichtlich unbegründet abgelehnt". Nachdem auch das Verwaltungsgericht Magdeburg mehrere Eilanträge, mit denen der Anwalt die Abschiebung stoppen wollte, abgelehnt hatte, wurde Davut K. zur Ausreise verpflichtet. "Deshalb hat mein Mandant den Polizeieinsatz als Abschiebung verstanden." Heute will der Anwalt erneut einen Eilantrag stellen.

Berliner Morgenpost Sonnabend, 25. November 2000
KURDE FLÜCHTETE MIT SPRUNG: LEBENSGEFAHR
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Aus den Räumen einer Beratungsstelle für Folteropfer ist gestern ein 18-jähriger Kurde auf der Flucht vor der Polizei vom 2. Stock in einen Lichthof gesprungen. Der Mann wurde lebensgefährlich verletzt. Er war einer Polizeikontrolle aufgefallen, weil seine Duldung für einen Aufenthalt abgelaufen war. Da er ein Terminkärtchen für das Gespräch bei der Beratungsstelle in der Roscherstraße in Charlottenburg bei sich hatte, war zu vermuten, dass er sich dort einfinden würde. «Der 18-Jährige war durch seine Erfahrungen in der Türkei schwer traumatisiert. Gestern gegen 10.30 Uhr kam er zu uns. Wenig später klingelte es, vor der Tür standen zwei uniformierte Polizisten. Als ich ihnen erklärte, dass ich ihnen keinen Zutritt gestatten würde, kamen sie mit drei Mann wieder, drängten mich beiseite und stürmten mit gezogenen Waffen in die Beratungsstelle. Sie trafen aber niemanden an, weil unser Klient bereits aus einem Fenster gesprungen war. Er lag im Hof, war noch ansprechbar und fragte immer wieder, ob er jetzt abgeschoben werde», schildert Diplom-Psychologe und Psychotherapeut Dietrich F. Koch, der Leiter der Beratungsstelle, den Vorfall. Die öffentliche Einrichtung des Trägers «Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte e.V.» wird auch aus Mitteln der EU und des Flüchtlingshilfswerkes der UN finanziert. Bei der Pressestelle der Polizei war gestern Nachmittag bis Redaktionsschluss niemand für eine Stellungnahme zu erreichen. tz

Berliner Zeitung 25. November 2000
17-JÄHRIGER SPRANG AUS PRAXISFENSTER
Motiv: Angst vor Abschiebung
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Bei einem Sturz aus dem Fester einer im dritten Stock liegenden psychotherapeutischen Praxis in Charlottenburg wurde am Freitag ein 17-jähriger Kurde türkischer Staatsangehörigkeit lebensgefährlich verletzt. Offenbar aus Angst vor der Abschiebung war der Jugendliche aus dem Fenster in einen sechs Quadratmeter großen Lichthof gesprungen. Er wurde in ein Krankenhaus transportiert, wo er am Rücken operiert wurde. Der 17-Jährige war am Morgen auf dem U-Bahnhof Klosterstraße (Mitte) von BVG-Bediensteten kontrolliert worden. Nach Angaben der Polizei war seine Umweltkarte gefälscht. Er flüchtete. Dabei liess er Papiere zurück, darunter offenbar einen abgelaufenen Duldungs-Ausweis und eine Terminvereinbarung mit der Praxis in der Roscherstraße in Charlottenburg. Dort sei er in Behandlung gewesen, weil er nach Angaben der Charlottenburger Ärzte in der Türkei gefoltert und traumatisiert war. Nach Polizeiangaben hatten ein 44-jähriger Therapeut und eine 41-jährige Sekretärin die Anwesehenheit des Gesuchten geleugnet und den Beamten den Zutritt verwehrt. Als die Polizisten einen Knall hörten, hätten zwei Beamte Pistolen gezogen und seien in die Praxis eingedrungen. Daraufhin sei der 17-Jährige gesprungen. In der "Abendschau" nannte einer der Therapeuten das Verhalten der Polizei "nicht angemessen". (lo.)

Der Tagesspiegel 25.11.2000
Angst vor Abschiebung
POLIZEI VERFOLGTE KURDEN: STURZ AUS DEM FENSTER
Beamte drangen mit Waffen in Therapiepraxis ein / 20-Jähriger wurde bei Fall aus 3. Stock lebensgefährlich verletzt
Holger Stark.
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Ein 20-jähriger Kurde ist gestern aus Angst vor einer Abschiebung aus dem dritten Stock einer Charlottenburger Psychotherapiepraxis gestürzt. Zuvor waren Beamte der Polizei gegen den Willen der Therapeuten mit gezogenen Schusswaffen in die Praxis eingedrungen. Der junge Mann wurde lebensgefährlich an der Wirbelsäule und den Beinen verletzt. Bis Freitagabend war unklar, ob er überleben wird. Die Therapeuten machen der Polizei schwere Vorwürfe und sprechen von einem skandalösen Vorgehen. Davut K. war gegen 10 Uhr in die Praxis von "Xenion" in der Roscherstraße gekommen, wo er einen Behandlungstermin hatte. "Xenion" ist eine Beratungsstelle für politisch Verfolgte. Davut K. wurde dort seit kurzem therapeutisch behandelt, weil er nach Angaben der Ärzte in der Türkei gefoltert worden war und "eindeutig traumatisiert" sei, wie sein Psychotherapeut Dietrich Koch sagt. Aufgeregt habe der junge Kurde berichtet, er sei auf dem Weg in der U-Bahn kontrolliert worden. Nach Polizeiangaben fuhr Davut K. schwarz und lief bei der Kontrolle davon. Streifenpolizisten der Direktion 3 folgten ihm, klingelten bei "Xenion" und verlangten Einlass. Dies habe er verwehrt, sagt Koch. "Wir sind eine Beratung, haben eine Verpflichtung gegenüber unseren Patienten und stehen unter Schweigepflicht." Daraufhin hätten die Einsatzkräfte mit Verweis auf "Gefahr im Verzug" gewaltsam die Wohnungstür geöffnet und den Psychotherapeuten beiseite gedrückt. "Die Polizisten sind anschließend mit gezogenen Waffen in die Praxis gestürmt", sagt Koch. Kurz, nachdem die Beamten in die Praxisräume eindrangen, habe er einen Aufprall gehört. Noch offen ist nach den Polizeiermittlungen, ob Davut K. aus Panik aus dem Fenster gesprungen sei oder sich auf einen Fenstersims flüchten wollte und dabei abgestürzt sei. Der Therapeut und die Polizisten fanden ihn schwer verletzt im Innenhof des Hauses liegend. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht. Nach Angaben seines Rechtsanwalts Dündar Kelloglu wuchs Davut K. in Kurdistan auf und engagierte sich politisch für die Unabhängigkeit der Region. 1999 sei er in der Türkei wegen Mitgliedschaft in der PKK zu zehn Jahren verurteilt worden. Da er sich unter Folter bereit erklärt habe, für den türkischen Geheimdienst zu spitzeln, sei er aber aus der Haft entlassen worden. Dies habe er genutzt, um nach Deutschland zu fliehen. Sein Antrag auf Asyl wurde nach Kelloglus Angaben abgelehnt - als "offensichtlich unbegründet". Die Unterlagen seien gefälscht, und da er nicht im Gefängnis gesessen habe, drohe ihm keine Verfolgung, so die Argumentation der Behörden. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge wollte sich gestern nicht zu dem Fall äußern. Nach Angaben des Anwalts habe ein Gericht die Ablehnung bestätigt, allerdings ohne die Unterlagen neu zu überprüfen. Daraufhin wurde der 20-Jährige zur Fahndung ausgeschrieben, bestätigte die Innenverwaltung gestern. Der Psychotherapeut Koch sagte nach dem Sturz, er sei "absolut schockiert. Ich hätte nie gedacht, dass hier ein solcher Vorfall möglich ist." Ein Sprecher der Polizei sagte dagegen: "Es handelte sich um einen Straftäter, der sich der Personalienfeststellung entzog. Da werden alle nötigen polizeilichen Maßnahmen durchgeführt."

Anmerkungen:
1. Politisch verantwortlich für den Polizeiansatz ist Bürgermeister und Innensenator Dr. Eckart Werthebach, Klosterstr. 47, 10179 Berlin, Tel. 030-9027-0, Fax -2733.
2 . Da sich die Pressebericht in diesem Punkt widersprechen: Nach Auskunft der Beratungsstelle Xenion ist der Kurde 17 Jahre alt.
3. Zu den Fahrkartenkontrollen der BVG In Berlin werden übertragbare Monatswertmarken (z.B. wenn der Inhaber eines Jahresabonnements in Urlaub fährt) vielfach u.a. über die "Zweite Hand" günstiger angeboten. Offenbar werden dabei auch gefälschte Wertmarken gehandelt. Aber auch an offiziellen BVG-Verkaufsstellen sollen in der Vergangenheit bereits gefälschte Wertmarken verkauft worden sein. In letztere Zeit werden Fahrgäste von BVG-Kontrolleueren offenbar zunehmend beschuldigt, gefälschte Wertmarken zu benutzen. Vielfach sind Ausländer betroffen, zumindest dann wird anscheinend regelmäßig die Polizei hinzugezogen, die Betroffenen sollen teilweise stundenlang inhaftiert worden sein. Die Vorwürfe der gefälschten Wertmarken hätten sich dennoch oft als haltlos erwiesen haben. Beim Antidiskriminierungsbüro Berlin sollen in letzter Zeit zunehmend entsprechende Beschwerden eingehen.
4. Nachfragen an: Flüchtlingsrat Berlin, Fennstr 31, D 12439 Berlin, Tel ++49-30-6317873, Fax ++49-30-6361198, mail fluechtlingsrat@snafu.de
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